Echtzeitkommunikation: praktisch oder störend?

von Axel von Leitner am 17.4.2018

Wer das glaubt, der belügt sich selber. Die Kommunikation ist ja nicht weg, sie ist jetzt nur in einem anderen Kanal und umso schlimmer geworden, durch die permanenten Benachrichtigungen und den Echtzeit-Anspruch, den die Chat-Tools mitbringen. 

Okay, hier wird also über die Chat-Tools gemeckert. Ja, wird es, allerdings bin ich selbst ein Slack-Fan und habe es vor einigen Jahren für uns eingeführt. Slack ansich ist meines Erachtens nicht das Problem, nur die Kommunikationsveränderung, die damit einher geht. 

Verstehen Sie mich nicht falsch: Aus Sicht des Fragenden ist Chat eine tolle Sache. Ich finde es auch super, wenn ich beim Online Händler meines Vertrauens kurz auf einen Chat-Slot warte und dann direkt eine Antwort auf meine Frage bekomme, anstatt 24 Stunden auf eine E-Mail-Antwort zu warten. Dort ist das aber auch Teil des Kundenservice. Der Alltag meines Gegenübers besteht ausschließlich aus kleinen Arbeitsaufgaben. Und der Chat-Kanal wird einfach höher priorisiert, als der E-Mail Kanal. Aber das ist ein anderes Thema. 

Das Gegenüber in der internen Kommunikation der meisten Firmen ist aber kein Service-Mitarbeiter, der nur dafür da ist auf Chat-Nachrichten zu reagieren. Bei den Kollegen wird hoffentlich nicht nur oberflächliche, sondern tiefgehende und geistig anspruchsvolle Arbeit erledigt: Texte schreiben, Konzepte anfertigen, Programmieren, Zeichnen...

Deep work vs. shallow work

Es gibt Jobs oder Aufgaben, die erfordern mehr Konzentration als andere. Wenn ich gerade meine E-Mails bearbeite, dann schmerzt eine Unterbrechung kaum. Wenn ich hingegen einen langen Text schreibe oder einer kreativen Tätigkeit nachgehe, dann ist jede noch so kleine Unterbrechung tödlich für meine Produktivität. Die meisten Leute werden das nicht sagen oder als schlimm empfinden, aber in Summe sind solche Unterbrechungen zeitraubend. 

Und die meiste Wertschöpfung entsteht nunmal bei der konzentrierten Arbeit. Ein passender Buchtipp dazu ist übrigens [Deep Work](https://amzn.to/2usWG8Y, Deutsch: https://amzn.to/2J60PTU), eines meiner Lieblingsbücher in letzter Zeit.

Hier ist Echtzeitkommunikation super

Ein Kunde sagt er kommt nicht auf sein System. Bitte schaut doch mal, um ein größeres Problem auszuschließen.

Ich arbeite an XY und ohne Feedback komme ich nicht weiter. Dass mir das erst so spät einfällt,
dass ich jemanden anders unterbrechen muss ist schlecht, aber ich konnte es nicht vorhersehen.

Hier ist Echtzeit völlig unnötig. Echte Beispiele aus den letzten Tagen:

"Ich besorge eine neue sodastream flasche … die ist leer und ich bringe dir die Rechnung mit?"

"@axel @Lara @Ralf Aufkleber sind da"

"Kurze Anmerkung zu dem Artikel: Der Meta Title der Seite ist aktuell nur “Akquise”. Das Wort sollte schon ganz vorne stehen, dahinter sollte aber auf jeden Fall noch etwas kommen, was zum Klicken anregt. “Akquise - Definition & Erfolgsrezepte” oder so"

"moin! hab gerade mal die Mail überflogen. Können wir ja mal drüber schnacken..."

Nur eine Frage der (Software-)Einstellung?

Man kann Benachrichtigungen deaktivieren oder ganz genau einstellen, das stimmt. Das macht aber zum einen niemand im Team und es hilft auch nicht. Ich habe mein Slack seit Ewigkeiten so eingestellt, dass es Benachrichtigungen nur bei Direktnachrichten, Erwähnungen oder besonders wichtigen Kanälen verschickt. Denn meine Grundannahme ist: Wenn mich jemand direkt anschreibt oder erwähnt, dann wird es wahrscheinlich dringend sein. Das "Problem": Die meisten direkten Nachrichten sind keinesfalls dringend. Sie sind beiläufige Fragen oder Todos. Dinge, die ich zu 90% der Fälle nicht direkt bearbeiten muss. 

Ich als Chat-Polizei

Also versuche ich mich seit einiger Zeit als Chat-Polizei und lasse hier und da fallen, dass die 1:1 Nachrichten oder @-Erwähnungen nicht immer der richtige Weg sind. Und ich halte mich natürlich auch daran und schreibe 1:1 nur über den Chat, wenn ich JETZT eine Rückmeldung brauche. Und so wird auf mich Rücksicht genommen und die Kollegen akzeptieren, dass ich persönlich ein Problem mit Echtzeit-Kommunikation habe und ich bekomme dann eben alles als Aufgabe in unserem CRM eingestellt. Vielleicht eine Macke von mir oder weil ich als Produktentwickler eine Sonderrolle im Team habe, zwischen Kundenberatung und Entwicklung sitze und daher häufiger direkt angeschrieben werde. 

Aber es geht mir ja nicht um mich und meine Produktivität, sondern um die von jedem einzelnen. Und es ist meine feste Überzeugung, dass das aktuelle Chat-Verhalten unserer Produktivität schadet. 

Die Chat-Polizei ist auf jeden Fall müßig, undankbar und auf Dauer keine Lösung. 

Was also tun?

Unabhängig von dem Kanal über den ich schreibe, gilt: So wenig Echtzeit-Kommunikation wie möglich, so viel wie nötig. Nur wenn ich JETZT im Sinne von innerhalb der nächsten Stunde eine Antwort brauche, dann kommuniziere ich in Echtzeit. Ich schreibe im Chat eine Direktnachricht oder noch "störender" - ich rufe an.

Für alles, was wichtig, aber nicht zeitkritisch ist, sollten wir auf Kanäle ausweichen, die unser Gegenüber nicht in seiner Arbeit unterbrechen:

  • Aufgaben in der CRM- oder Todo App der Wahl, wenn die Kommunikation nachvollziehbar für andere sein soll
  • Nachricht in einem Chatraum für alle relevanten Kollegen sichtbar, aber ohne Anspruch auf Echtzeit (z.B. bei uns der Support- oder Entwickler-Chat, in den jeder unregelmäßig vor seinen Pausen rein schaut)
  • Alternativ als E-Mail an denjenigen und bestenfalls ohne x Kollegen in CC

Wie genau wir weiter machen mit unserem Chat-Verhalten, weiß ich selbst noch nicht. Ich weiß jedoch, dass es so nicht weitergeht. Entweder wir schaffen den internen Chat komplett ab, was für viele Dinge  ein Verlust wäre (ad hoc Koordination bei Fehlern, Absprachen im Support- oder Entwickler-Team) oder aber wir schaffen es alle nicht zeitkritischen Themen aus den Direktnachrichten und den @-Erwähnungen raus zu ziehen, so dass unser Chat wieder benutzbar wird. Dass das klappt, halte ich aktuell so lange für unwahrscheinlich, wie wir die 1:1 Chats nicht abschalten. Ja, danach habe ich ernsthaft schon gesucht. In Slack geht das zumindest nicht, bei einigen Alternativen wohl schon. 

In jedem Fall müssen wir als Team noch besser lernen, wie wichtig unterbrechungsfreie Zeit ist. Dass Kommunikation nicht gleich Kommunikation ist und dass es gerade in unserer Zusammensetzung als häufig verteilt arbeitendes Team wichtig ist, den Gegenüber nicht auf Grund von Kleinigkeiten zu unterbrechen. 

Wenn das klappt, werden wir alle produktiver und können am Abend wahrscheinlich eine Stunde früher das Arbeitsgerät weglegen.

Zu Thema "Wie geht Kommunikation im Team richtig?" gibt es auch eine Folge in unserem Vertriebspodcast Vertriebsküche. Hören Sie doch mal rein! 

Wie sind Ihre Erfahrungen mit der Einführung und Nutzung von Echtzeit Chat-Diensten? Alles nur Sonnenschein oder stehen Sie vor ähnlichen Herausforderungen?

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Axel von Leitner

Mitbegründer von 42he. Beschäftigt sich mit den betriebswirtschaftlichen Dingen und steckt viel Herzblut in Design & Usability. Axel schreibt insbesondere über Produktivität, Design und Startup-Themen.