Viele, vor allem männliche Fotografen, sind wahre Jäger und Sammler. Stets auf der Suche nach technischen Verbesserungen eifern sie den neusten Superlativen hinterher: mehr Schärfe, mehr Pixel, mehr Features. Obwohl leidenschaftlicher Fotograf, zähle ich mich eigentlich nicht zu dieser Gattung. Trotzdem gehen die Entwicklungen der laufenden Photokina nicht völlig an mir vorbei, zumal in ganz Köln ergänzende Veranstaltungen laufen und man auf allen Kanälen beschallt wird. Mein Interessen geweckt hat dabei eine Kamera der Wetzlarer Edelschmiede Leica. Warum? Weil Sie in Zeiten von extra Knöpfen und Funktionen praktisch alles weglässt, was nicht zwangsläufig für eine Kamera von Nöten ist - einschließlich des Displays.
Dieser Schritt hat mich tatsächlich überrascht. Nicht nur, weil das Display sicher das markanteste Merkmal einer Digitalkamera im Vergleich zum analogen Vorgänger ist, sondern weil es auch als „Lernbooster“ gilt. In analogen Zeiten dauerte es ja oft Wochen, bis man das fertige Bild zu sehen bekam. Nur die besonders Fleißigen hatten sich notiert, unter welchen Umständen und mit welchen Kameraeinstellungen sie fotografiert hatten. Der Rest hoffte einfach es beim nächsten Mal besser zu machen, oder dass die Automatik es schon richten würde. Heute reicht ein Blick aufs Display und man kann sofort korrigieren, bzw. nachfotografieren. Diese Option wegzulassen soll jetzt also der neuste Schrei sein?
Ja, denn wie häufig im Leben verstellen zu viele Optionen den Blick auf das Wesentliche. Die Frage was genau dieses Wesentliche ist und was nur überflüssig, die kann einen Menschen wohl zeitlebens beschäftigen und ist mit sehr viel Trial and Error verbunden. Dass man durch die gezielte Reduktion von Dingen und Optionen aber wirklich gewinnen kann, lässt sich an der Kamera-Analogie schön beschreiben.
Konzentration auf den Inhalt - das Motiv
In der Fotografie geht es, kurz gesagt, um die gezielte Darstellung eines Motivs mit Hilfe einer Kamera. Wie oft ertappe ich jedoch mich und andere dabei, ständig auf das Display zu glotzen und an irgendwelchen Rädchen und Knöpfchen zu spielen, mich also mit dem Hilfsmittel mehr zu beschäftigen als mit dem Ziel. Was genau fotografiere ich da eigentlich und warum? Was macht das Motiv aus, wie fällt das Licht und welche Perspektive wäre die passende? Kurzum, anstatt nur die Kamera zu fokussieren sollte ich selbiges mal mit meiner Aufmerksamkeit tun. Ob eine Kamera, die viele Funktionen weglässt, deswegen 5 mal so teuer sein muss wie eine vergleichbare, die diese Funktionen enthält, steht selbstredend auf einem anderen Blatt.
Reduktion wirkt befreiend
Es ist jedoch nicht nur der fehlende Fokus, den zu viele Dinge und Optionen mit sich bringen. Jeder, der einmal Berge alter „Schätzchen“ auf einem Flohmarkt verkauft hat, weiß wovon ich rede: es wirkt befreiend! (Habe ich diesen Samstag erneut festgestellt). Oft ohne es zu merken, sammeln wir im Glauben uns mehr Möglichkeiten zu schaffen, ausschließlich mehr Ballast. Nicht nur in materieller Form, sondern vor allem in dem ständigen Druck an alles denken und richtig entscheiden zu müssen. Das belastet. Seit Jahren steigen insbesondere in der westlichen Welt mit dem wirtschaftlichen Wachstum der Lebensstandard und die Möglichkeiten eines jeden einzelnen, sich selbst zu verwirklichen. Ebenso seit Jahren sinkt hingegen die Zufriedenheit, das „Lebensglück”. Das lässt zwar nicht den Umkehrschluss zu, je weniger Wohlstand und je weniger persönliche Optionen, desto glücklicher. Es zeigt aber, dass „mehr“ nicht zwingend „besser“ bedeutet.* Speziell nicht, wenn man die Wahl hat. Um bei der Kamera zu bleiben: Nicht umsonst arbeiten einige der weltbesten Fotografen bei bestimmten Aufträgen ausschließlich mit einer Kamera und einem Objektiv.
Reduktion schafft Kapazitäten
Das Ausloten und Bedienen von Funktionen kostet Zeit. Zeit, die an anderer Stelle häufig wesentlich besser eingesetzt wäre. Angefangen beim Erlernen über das korrekte Einstellen bis hin zur Pflege der einzelnen Knöpfe und Features, all das frisst Zeit und Konzentration. Die könnte man wie oben beschrieben nutzen, um sich mit dem Motiv auseinanderzusetzen - oder um ein Eis in der Sonne zu essen.
Komplexität schreckt ab
Lustigerweise ist das menschliche Entscheidungsverhalten oft paradox. Während man beim Erwerb von etwas danach entscheidet, was die meisten Optionen bietet (ellenlange „Feature-Listen“ sind das beste Beispiel), ist es beim Erlernen und Nutzen genau andersherum. Hier schreckt Komplexität ab und wir fühlen uns schnell überfordert. Der Wunsch besteht also darin, sich möglichst alles offen zu halten und nicht künstlich einzuschränken, gleichzeitig aber später „das Richtige“ zu wählen und damit super zurecht zukommen. Doch der vorherige Punkt hat es bereits angedeutet: Die Erhöhung der Quantität kostet Zeit, selbst wenn man sich weniger intensiv mit den einzelnen Optionen beschäftigt. Gleichzeitig stellt uns das Ergebnis nicht mehr zufrieden.
Zum anderen verleitet uns die Angst vor einer Fehlentscheidung eben diese Entscheidung vor uns her zu schieben, sie auszublenden oder sich erst gar nicht damit zu beschäftigen. Es gibt dazu ein bekanntes „Marmeladenexperiment“ der New Yorker Professorin Sheena Iyengar. Auf zwei Versuchstischen werden Marmeladen angeboten. Einmal sind es sechs Sorten, beim zweiten Tisch sind es 24. Während sich deutlich mehr Kunden um den Tisch mit den 24 Sorten scharen, kaufen letztendlich mehr Kunden an dem mit den sechs.
Mit der Kamera ist es ähnlich. Praktisch jeder, der eine etwas komplexere Kamera gekauft hat, wollte sich immer mal intensiv mit dem Handbuch auseinandersetzen. Aus Angst es nicht zu verstehen oder wohlmöglich noch Fehler zu machen, bleibt die Kamera meist im Automatikmodus und all die schönen Features bleiben ungenutzt.
Was nicht dran ist, kann nicht kaputt gehen
Spätestens wer mal in Regionen der Welt unterwegs war, wo man nicht mal eben Ersatzteile kaufen kann, weiß wie wichtig es ist, adäquate und verlässliche Ausrüstung zu haben. Das bedeutet, so wenig wie möglich, aber vielseitig einsetzbares und unzerstörbares Material. Jedes Teil, was man nicht dabei hat, kann nicht kaputt oder verloren gehen. Natürlich auch hier wieder die Frage, was ist das Material, welches man unbedingt braucht? Ich habe selbst nach anderthalb Jahren ununterbrochenen Reisens noch aus- und umsortiert. Sei es, weil ich manches liebgewonnen hatte, es inzwischen zweifellos unbrauchbar war oder weil neue Situationen halt doch manchmal neue Anschaffungen nötig machen. Auf einem nepalesischen Fünftausender braucht man eben andere Dinge als auf einer thailändischen Insel. Wenn auch weniger, als man auf den ersten Blick meinen möchte.
Die Reduktion auf das Wesentliche greift augenscheinlich nicht nur bei der Analogie der Kamera und der Anzahl ihrer Funktionen, aber sie wird hier meines Erachtens besonders schön deutlich. Wir versuchen uns diese Maxime täglich bei der Konzeption unserer CRM-Software vor Augen zu halten, denn auch hier prasseln jeden Tag diverse Wünsche auf uns ein. Trotzdem gilt: so wenig wie möglich, so viel wie nötig. Und: Man kann es nie allen recht machen. Das vor Augen erleichtert das Fokussieren aber schon erheblich - und schafft auch mal Zeit für ein Eis in der Sonne.
*Schön beschrieben hat dieses Phänomen Barry Schwartz in seinem Buch “The Paradox of choice”. Dazu mehr in einem baldigen Artikel